Vortrag und Gespräch mit Dr. Millay Hyatt bei ODAK
In der Veranstaltungsreihe „BLACK LIVES MATTER – auch in Münster?“ des May Ayim Rings war am Donnerstag (30. September) die Berlinerin Dr. Millay Hyatt zu Gast. Die Philosophin, Journalistin und Übersetzerin trug in den Räumlichkeiten von ODAK ihr Essay „Weißsein als Privileg“ vor und diskutierte anschließend mit den Teilnehmer*innen.
Zum Einstieg präsentiere Hyatt drei Beispiel für rassistisches Handeln, die von „Weißen Menschen“, selbst wenn diese sich für antirassistisch halten, kaum als rassistisch wahrgenommen würden. Erst als die Vortragende ein Plakat des „Kinderhilfswerk Plan International“ mit der Aufforderung zur Übernahme einer Patenschaft für ein Schwarzes Kind durch den Austausch des Kinderbildes durch ein blondes Weißes Mädchen veränderte, wurde allen Anwesenden klar, wie selbstverständlich Weiße Menschen Schwarze Kinder mit arm oder hilfsbedürftig gleichsetzen und damit eine unterschwellige rassistische Einstellung zeigen.
„Die kritische Weißseinsforschung will die Weißen darauf aufmerksam machen, dass sie nicht einfach »Menschen« sind, sondern weiße Menschen. Das heißt, sie sind nicht ausgenommen von der gesellschaftlichen Bestimmung durch ethnische Merkmale. Diese Bestimmung verschafft ihnen eine Sonderrolle. Dies zu leugnen, heißt, jene rassistischen Hierarchien fortzuschreiben, die sie für überholt annehmen“, verdeutlichte Dr. Millay Hyatt.
Der geschilderte und die beiden anderen Fälle beruhten, so Hyatt, auf der gleichen Denkfigur. Diese sei für viele von uns (Weißen Menschen) schwer zu fassen. Aus einer bestimmten Perspektive seien sie sogar so gut wie unsichtbar – konturlos, farblos. Dabei wären sie überall präsent und abgebildet in unserem Land: im Fernsehen, in den Medien, der Werbung, am Lehrerpult, im Bundestag. Die Mehrheit nimmt sie aber nicht wahr, weil sie sich selbst in diesen Bildern sieht, oder eben nicht sieht. Einfach, weil die Figur des Weißen für die Betrachter*innen so „normal und selbstverständlich“ sei.
Wissenschaftlicher und politischer Ansatz

Die kritische Weißseinsforschung beschreibe ebenso einen wissenschaftlichen wie auch einen politischen Ansatz. Bei beiden ginge darum, „die Figur des Weißen in der Gesellschaft und im wissenschaftlichen Diskurs wahrnehmbar zu machen.“ Critical Whiteness, so der englische Begriff für kritische Weißseinsforschung, wolle die Figur des Weißen seiner zentralen, normstiftenden Position entheben und frage, inwiefern Weißsein als unsichtbarer Maßstab das Nicht-Weiße als Abweichung und minderwertige Abstufung darstelle?
Dies passiere, so die Referentin, oft auf einer unbewussten Ebene und in der Rede oder in den Texten von Menschen, die sich selbst als nicht rassistisch oder gar als anti-rassistisch begreifen. Wie die Vertreter der kritischen Weißseinsforschung stets betonen, ist der Ansatz keineswegs neu oder nur eine akademische Kopfgeburt, verdeutlichte Dr. Millay Hyatt: „Schwarze und andere Nicht-Weiße beobachten, benennen und kritisieren seit Jahrhunderten die Figur des Weißen und die Vormachtstellung des Weißseins. Sie taten und tun dies, um sich selbst zu schützen. Und um Strategien für das Überleben zu entwickeln und womöglich auch für das persönliche und soziale Glück in hierarchisch nach Hautfarbe strukturierten Gesellschaften. Neu ist lediglich die wissenschaftliche Anerkennung für diese Arbeit.“
„Unbewusste Klischees sind gefährlicher als offene Anfeindung!“
Dr. Millay Hyatt
Es ginge in der kritischen Weißseinsforschung darum, solche Denkmuster zu benennen und kritisch zu reflektieren. Sie setze dort an, wo die meisten Weißen denken, mit der Verurteilung von offenem Rassismus sei genug getan. Zu Erklärung zitierte sie Sénouvo Agbota Zinsou, togoischer Autor und Theatermacher aus Bayreuth, der schrieb: „Der kleine Neo-Nazi oder der »ausländerfeindliche« Betrunkene, der […] »Ausländer raus!« […] brüllt, stellt meines Erachtens eine geringere Gefahr dar – wenn er sich auf verbale Angriffe beschränkt – als der Intellektuelle, der Künstler oder Journalist, die bewusst oder unbewusst Klischees vermitteln, nicht nur weil sie sich an Tausende, sogar an Millionen Menschen wenden, sondern auch, weil man ihnen Glauben schenkt.“
Rassistische Gewalt, so die Überzeugung der Weißseinsforschung, ist bloß die Spitze des Eisbergs einer noch längst nicht überwundenen Ideologie, die das Denken, Fühlen und Handeln auch der liberalsten Menschen strukturiert und eine Gesellschaft aufrechterhält, in der Macht und Geltung keineswegs farbenblind verteilt werden.
Farbenblindheit hilft nicht
Die kritische Weißseinsforschung distanziert sich von der Idee der „Farbenblindheit“, die auf der auch in der Antirassismus-Bewegung weit verbreiteten Auffassung beruht, Rassismus solle bekämpft werden, indem ethnische Merkmale nicht thematisiert und alle Menschen so behandelt werden, als existierten solche Merkmale nicht. tatsächlich beruhe die Idee – speziell in der deutschen Spielart – auf historischen Grundlagen. Im 17. Jahrhundert fand der biologische Rassenbegriff Eingang in die europäische Wissenschaft. Mit ihm wurden Menschengruppen aufgrund von äußerlichen Merkmalen hierarchisiert. Dies diente im Kolonialismus als Rechtfertigung für die Unterwerfung, Ausbeutung, Versklavung und den Völkermord an als rassisch minderwertig definierten Menschen. Im 20. Jahrhundert trieben die Nationalsozialisten mit ihrer Rassenideologie diese von der europäischen Aufklärung formulierte Denk- und Handelsweise auf die Spitze.

Aber das „eurozentrische“ Denken fand und finde zunehmend Kritiker*innen. Die von ehemals Kolonisierten in Afrika und Asien sowie von ethnischen Minderheiten in Nordamerika und Europa formulierte Kritik benannte ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Problem – die Anmaßung weißer Europäer, sich als Krönung der Schöpfung beziehungsweise der Evolution zu sehen.
Verweis auf ethnische Merkmale vermeiden
In Deutschland sei der Ansatz, jede Identitätskonstruktion aufgrund ethnischer oder rassischer Charakteristiken als in sich rassistisch zu verurteilen, auch in der antirassistischen sowie der antifaschistischen Bewegung verhanden. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen von Migranten oder Flüchtlingen und Einheimischen oder die der herrschenden Klasse und der Ausgebeuteten würden thematisiert. Jeglicher Verweis auf ethnische Merkmale, auch wenn sie in der benachteiligten beziehungsweise privilegierten Gruppe überproportional vertreten seien, würde bewusst und aus politischer Überzeugung vermieden. Diese Merkmale, so deren Argumentation, seien selbst aus rassistischer Motivation konstruiert worden. Tatsächlich aber hielte dies den Rassismus weiter am Leben.
Die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland vermeide vor allem die Benennung einer rassischen Kategorie und zwar die Kategorie des Weißen. Es wird aber immer wieder darauf hingewiesen, dass jemand nicht-weiß ist. Allerdings meist durch die Blume: Es gibt den berühmten „Migrationshintergrund“. Oder jemand ist „Afrikaner“ oder „Türke“. Dies auch wenn der oder die, der oder die diese Aussage trifft, gar nicht wisse, welche Staatsbürgerschaft die Person tatsächlich besitze oder welcher Kultur diese sich zugehörig fühle.
Kolonialgeschichte in den Blick nehmen
Kritische Perspektiven in England und Frankreich hingegen setze sich mit der Kolonialgeschichte auseinander. In den USA würde es insbesondere mit der Sklavenwirtschaft und dem Genozid an den indigenen Völkern in Verbindung gebracht. In Deutschland würde rassisches Denken heute mit den Begriffen aus dem Faschismus identifiziert. Nur selten würde weiter zurück in die Geschichte geblickt, um die Wurzeln für rassistisches Gedankengut zu suchen. Durch diese Fokussierung auf den Nationalsozialismus ginge der Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte verloren. Ein völkisches Denken, das schon vor den Nazis identitätsstiftend war, wirke auch nach ihnen und bis heute weiter.
Daraus folgt, so die Weißseinsforschung, die Umgehung der ethnischen Zuschreibungen in Deutschland. Viele denken, wenn sie ethnische Zuschreibungen vermeiden, sich bereits klar für „Toleranz“ und gegen Rassismus eingesetzt zu haben.
Weit davon entfernt, die wissenschaftliche und politische Demontage des Rassendenkens wieder rückgängig machen zu wollen, sehe die kritische Weißseinsforschung den Ausgangspunkt ihres Ansatzes in der sozialen Konstruktion der rassischen Kategorien. „Weiß“, „schwarz“ oder „asiatisch“ seien gesellschaftlich geschaffene Identitäten. Phänotypische Merkmale wie zum Beispiel eine bestimmte Pigmentierung oder Lidfaltenstruktur würden zu Markierungen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe gemacht und zudem mit sonstigen Charaktereigenschaften (mehr oder weniger intelligent, mehr oder weniger triebhaft und so weiter) verknüpft. Die kritische Weißseinsforschung ist überzeugt, dass sich klar voneinander unterscheidbaren Gruppen wissenschaftlich nicht ausmachen lassen. Auch könnten soziale, psychologische, kulturelle oder sonstige Eigenschaften nicht auf äußerliche, genetisch bedingte Merkmale zurückgeführt werden. Trotzdem seien diese seit Jahrhunderten in den Köpfen und an den Körpern waltenden Kategorien weiterhin existiert und längst nicht ausgelöscht, nur weil niemand mehr davon spreche. Rassismus würde nicht verschwinden, nur weil der Begriff „Rasse“ nich verwendet würde. Menschen würden auch nicht dadurch gleich, weil behauptet würde, sie seien es.
Weiße müssen ihre priviligierte Position wahrnehmen
Die Position, die die kritische Weißseinsforschung bezieht, entstand aus den Erfahrungen von Nicht-Weißen. Sie erlebten in unserer Gesellschaft täglich, dass ihnen nur aufgrund bestimmter äußerlicher Merkmale Eigenschaften zugeschrieben oder abgesprochen werden. Im Unterschied zu Weißen würden sie zudem als Repräsentanten einer ethnischen Gruppe wahrgenommen. Die kritische Weißseinsforschung will die Weißen darauf aufmerksam machen, dass sie nicht einfach „Menschen“ sind, sondern weiße Menschen. Auch sie seien nicht von der gesellschaftlichen Bestimmung durch ethnische Merkmale ausgenommen. Diese Bestimmung verschafft ihnen aber eine positive Sonderrolle. Dies zu leugnen, hieße rassistischen Hierarchien fortzuschreiben.
Beispiele für Privilegien, die Weißen in die Wiege gelegt würden, nannte die amerikanische Erziehungswissenschaftlerin Peggy McIntosh schon 1988 in einem Essay:
- „Ich kann fluchen, Kleidung aus zweiter Hand anziehen oder Briefe nicht beantworten, ohne dass Menschen diese Entscheidungen auf die schlechte Moral, die Armut oder die Analphabetinnenrate aller Weißen zurückführen.
- Ich kann in einer schwierigen Situation gut abschneiden, ohne eine Ehre für alle Weißen genannt zu werden.
- Ich kann über viele Optionen – soziale, politische, imaginäre oder berufliche – nachdenken, ohne zu fragen, ob einer Person, die wie ich weiß ist, gestattet sein würde, zu tun, was sie tun will.
- Wenn ich erkläre, dass ein rassistisches Problem vorliegt, oder dass kein rassistisches Problem vorliegt, wird mein Weiß-Sein mir mehr Glaubwürdigkeit für beide Positionen verleihen als eine Person of Color sie haben wird.
Weiße Fremde können mit Fremdheit auftrumpfen
„Wer in Deutschland »Ausländer« oder »Migrationshintergrund« sagt, meint selten die Staatsbürgerschaft, nicht einmal die Herkunft der Eltern. Gemeint sind bestimmte Hautfarben beziehungsweise ethnische Merkmale, eine bestimmte Religion, eine bestimmte soziale Schicht oder eine Kombination dieser Kategorisierungen.“
Dr. Millay Hyatt
„Obwohl ich in den USA geboren bin und bis vor kurzem nur die amerikanische Staatsbürgerschaft besass, meine Muttersprache nicht Deutsch ist und meine Eltern nicht Deutsche sind, werde ich hierzulande kaum als Ausländerin wahrgenommen. In der Grundschule im Baden-Württemberg der 1970er Jahre wurde ich in die Klasse für Ausländer eingeteilt. Aber weder meine Mitschüler noch die weiße deutsche Lehrerin behandelten mich als solche – im Unterschied zu den türkischen Kindern in der Klasse. Dieses Privileg wird mir zuteil, allein, weil ich weiß bin“, verdeutlichte die Referentin.
Weiße Fremde könnten mit Fremdheit auftrumpfen. Hyatt: „Meine Anwesenheit in diesem Lande wird nicht infrage gestellt. Ich werde nicht in den Diskursen und Bildern der Medien als nicht dazugehörig dargestellt. Ich darf als Einheimische »durchgehen«, wenn ich es möchte. Aus dieser Position heraus zu behaupten, ich sähe keine Hautfarben, für mich seien alle Menschen gleich, wäre so überheblich und lächerlich, wie ein Reicher, der sagt, er sehe keine Armen.“

Sprache im Zentrum der anschließenden Diskussion
„Für viele Weiße dürfte die erste Konfrontation mit dieser Kritik irritierend sein“, erklärte Dr. Millay Hyatt. Es sei die gleiche Ängstlichkeit und Verunsicherung, die bei Weißen ausgelöst wird, wenn sich „mal wieder“ das Wort geändert hat, mit dem man eine bestimmte Menschen-Gruppe benennen soll. Wie heißt es jetzt richtig, Afrodeutsche oder Schwarze Deutsche? Man darf jetzt nicht mehr Z**** sagen? Der Reflex, der sich gegen solche Sprachregelungen sträubt oder auch als Reaktion darauf nur verlegen verstummt, ist im Kern die Irritation, die entsteht, wenn eigene Privilegien überdacht werden müssten.
In der mehr als einstündigen lebhaften und interessanten Diskussion standen Bildung und insbesondere die Sprache im Zentrum. Dr. Millay Hyatt erklärte zur Verwendung von diskriminierenden Beziechnungen: „Weiße nutzen das Privileg, andere Menschen so zu benennen, wie man es schon immer getan hat und unabhängig davon, wie diese Namen zustande kamen und wie diese Menschen sich selbst nennen oder benannt werden wollen.“ Zudem ginge es um das Sonderrecht, selbst nicht im Sinne der eigenen ethnischen Zugehörigkeit benannt werden zu wollen oder als typisch oder eine Ehre (beziehungsweise Schande) für alle Weißen zu sein. Reflektion über diese Privilegien ziehe die Aufforderung nach, sich zu ändern. Hyatt: „Und zwar nicht nur in der Sprachauswahl.“ Natürlich sei dies immer schwierig und verursache innere Abwehrreaktionen.
Die Durchführung der Veranstaltung war nur Dank der finanziellen Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW sowie der kostenfreien Stellung der Räumlichkeiten durch den Verein ODAK.
